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Das erschlichene Du

Alle Welt spricht mich inzwischen ungefragt mit »Du« an, und ich registriere es kaum noch. Bewusst geworden ist mir das ausgerechnet an einem Softeis-Stand. »Was möchtest Du haben?«, war die Frage einer Jugendlichen »Vanille, Schoko oder gemischt?«. Mein Tag der Geburt lag vermutlich mehr als ein halbes Jahrhundert vor dem ihrigen. Fassungslos fehlten mir die Worte. Das Eis habe ich längst aufgeschleckt, aber die innerliche Entrüstung über das eigenmächtige »Du« will sich nicht legen. Abgesehen von der immer dreister werdenden Werbung bedienen sich inzwischen Radiosender, Versandhäuser, Dienstleistungsunternehmen usw. ungeniert dieser vertraulichen Anrede bei Quiz-Teilnehmern, Kunden und Mandanten. Sie nutzen das vertrauliche »Du« als eine Art Wirtschaftsfaktor, indem sie Nähe heucheln. Es ist schwer vorstellbar, dass alle diese Menschen den Unternehmen – von sich aus – das Duzen angeboten haben. Will man das ungefragte Duzen nicht, ist es aufwendig, Unternehmen davon zu überzeugen, dass das von mir nicht akzeptiert wird. Teilweise erhielt ich patzige Antworten, aber es gibt auch wenige, die Kundenwünsche ernst nehmen. Einigen allerdings war ich eine Antwort einfach nicht wert. Das vertrauliche »Du« behalte ich mir für meine Angehörigen und engen Freunde vor, und von Fall zu Fall für diejenigen, die die dieselben Interessen teilen. Von allen anderen erwarte ich, dass sie mich zumindest verbal mit der Anrede »Sie« wertschätzen. Nur Leute, die die allgemeine Wertschätzung verloren oder noch nicht erreicht haben, werden im Allgemeinen geduzt. Insofern kann das Wörtchen »Du« auch beleidigend wirken. Man stelle sich eine Gerichtsverhandlung vor, in der der Angeklagte den Richter oder den Staatsanwalt mit »Du« und dem Vornamen anspricht … Das förmliche »Sie« ist also nicht unmodern und überholt, wie mir vor Kurzem jemand weismachen wollte.

Berthold Wendt, Kröpelin, 16.09.2023

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