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"abgegeben"

Am 5. März haben wir, mein Mann und ich, uns persönlich ein Bild von der Ausstellung »abgegeben – Wochenkrippen in der DDR« in der Rostocker Kunsthalle machen wollen - mein persönliches Fazit: die "Beleuchtung" dieses Kapitels der DDR-Geschichte ist doch sehr einseitig. Mütter werden als "Täter" stigmatisiert, Kinder als "Opfer". Schon der Titel ist negativ besetzt. Die Dokumente vermitteln, unterstützt durch die kreative Aufbereitung, dass es sich hier um betroffene traumatisierte Kinder handelt. Zu meinem näheren Umfeld gehören Freundinnen, die diese Kindereinrichtungen in Anspruch nehmen mussten. Alleinerziehend, ohne Oma oder gut verdienenden Ehemann, aber mit Fulltimejob und Kleinstkind, hatten sie für das Einkommen der kleinen Familie zu sorgen. Sie waren verantwortlich für die Erwirtschaftung des Familienbudgets und alle Familienbelange - Kind - Arbeit - Haushalt - Finanzen usw. Schweren Herzens musste meine Freundin ihr Kind am Wochenanfang zur Wochenkrippe bringen, um ihre Arbeit, die ihre ganze Kraft abverlangte (bis Sonnabend Mittag), durchzustehen. Gemeinsame schöne Unternehmungen gab es mit Kind am schmalen Wochenende. Von den Gefühlen und Empfindungen der Mütter konnte ich in der Ausstellung nichts lesen oder hören, von deren Wochenalltag nichts erfahren. Dabei gehören sie doch als Zeitzeugen unbedingt dazu. Aus dem "abgegebenen" Kind ist ein erfolgreicher selbstbewusster Mensch geworden (so, wie auch die anderen befragten Kinder). Im Einspieler sagt eine Wochenheimverantwortliche, dass diese Kindereinrichtungen dieser Situation geschuldet seien und in den späteren Jahren nur in Ausnahmefällen in Anspruch genommen werden würden... Kommentar einer Zuhörerin : "Wir im Westen Deutschlands beneideten die Frauen in der DDR, die arbeiten gehen durften....." Als Zeitzeugin möchte ich hier bemerken, dass es häufig schwierige Arbeitsbedingungen gab, wie z.B. bei mir: Wohnung in Evershagen - Krippe Blücherstraße - Arbeitsplatz Schröderplatz - das heißt: aufstehen 5 Uhr, Busabfahrt 6 Uhr(nur alle Stunde), Ankunft Krippe 6.30 Uhr, Arbeitsplatz 7 Uhr, und nach 17 Uhr der gleiche Vorgang zurück... Trotzdem bin ich stolz, dass wir diese Phase gemeistert haben. Wer würde diese Bedingungen heute akzeptieren? Die Ausstellung werden wir niemanden empfehlen.

R. Graß, Rostock, 12.03.2023

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