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Überlegungen

Wenn jemand ernsthaft behaupten würde, man hätte damals, vor 80 Jahren, mit Hitler nur richtig verhandeln müssen, dann hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben, keinen Holocaust, oder Menschen wären aus anderen Gründen nicht massenhaft und auf brutalste Weise umgebracht worden, würde man diesem Menschen mit Recht eine große Naivität und Unwissenheit unterstellen. Damals allerdings gab es viele, die Hitler schlichtweg unterschätzt haben, und genau das hat ihn stark gemacht. Wenn ich die heutige Situation in der Ukraine sehe aber auch in Russland selbst und in anderen Ländern, dann sind die Parallelen nur allzu deutlich. Putin und seine Leute schrecken vor keiner Brutalität und vor keiner Lüge zurück. Mich verwundert darum etwas sehr, nämlich die große Verharmlosung dieses Unrechtes auf der einen Seite und die grundsätzliche und scharfe Kritik an allem, was westliche Politiker und Verantwortliche tun, vor allem die USA. Fast hat man den Eindruck, als wäre der arme Herr Putin das Opfer der Kriegstreiberei von Selenskyi, Baerbock, Biden, von der Leyen und anderen. Und die Kritik an all diesen Verantwortlichen ist fundamental und total. Nie liest oder hört man Zwischentöne, etwa so: „Es ist ja auch wirklich sehr schwierig, hier das Richtige zu tun“ oder „Ich weiß es auch nicht besser, aber ich würde einen anderen Weg versuchen.“ Es gibt Naivität, aber wer so fundamental und total kritisiert, hat ein anderes Ziel: Diese freie, westliche, demokratische Gesellschaft im Kern zu treffen und zu schwächen, paradoxerweise selbst dann noch, wenn man ganz gut von ihr lebt. Wer diesen Kritikern vertraut, empfindet recht bald ein tiefes Misstrauen gegenüber unserem politischen System und wird schnell offen für irgendwelche Verschwörungen, das ist mit Händen zu greifen. Und es ist kein Zufall, dass viele von denen, die jetzt so agieren, es bei ganz anderen Fragen sehr ähnlich getan haben (s. S. Wagenknecht in der Coronapandemie). Dabei haben all diese Leute jetzt ein scheinbar entscheidendes Argument auf ihrer Seite: Wenn nämlich die Ukraine sich wehrt und wir sie dabei unterstützen, dann gibt es am Ende einen Atomkrieg. Zugegeben, diese Angst verstehe ich, und ich bin auch kein Held. Aber glaubt denn im Ernst jemand, dass Putin sich zufriedengibt, wenn er die Ukraine geschluckt hat? Zumal er dann ein wichtiges Argument auf seiner Seite hat, nämlich die NATO vor seinen Außengrenzen. Wenn das keine Bedrohung ist?! Und die Angst, die uns jetzt hindern soll, bleibt auch dann, denn wir haben es immer noch mit einer Atommacht zu tun. An welchem Punkt werden wir dann sagen: Wir lassen uns von unserer Angst nicht einschüchtern? Ich kann nur jeden ermutigen, die Augen offenzuhalten vor den falschen Propheten, die nur dazu beizutragen, dass wir uns gegenseitig misstrauen und zerfleischen. Auch davon profitiert Putin.

Wolfgang Hubert, Scheyern, 27.02.2023

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