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Missbrauch der Medizin

Missbrauch der Medizin in der NS-Zeit: Am 14. Februar, gerade am Valentinstag, trafen sich im Loewenschen Saal des Stralsunder Rathauses 66 Interessenten zu einem äußerst brisanten Thema, über dem Dr. E. Walraph intensiv gearbeitet hat. Bei Sanierungsarbeiten im Krankenhaus West Stralsund stieß man in den 80er Jahren auf Akten aus der NS-Zeit, die belegten, was mit den ca. 1200 Patienten, die dem damaligen Missbrauch der Medizin ausgeliefert waren, passiert ist. M. Friedrichs-Friedlaender sagte: „Wir sind nicht dafür verantwortlich, was die Nazis angerichtet haben. Aber wir tragen dafür Verantwortung, was wir aus der Geschichte machen.“ Und die beginnt in den ältesten Gemeinschaften und in den Sklavenhaltergesellschaften. Bei vielen Naturvölkern gab es die Praxis der Neugeborenentötung. Darüber philosophierten Sokrates und Platon (Rechtfertigung einer sozialen Hierarchie), und des Letzteren Schüler Aristoteles versuchte, die Ungleichheit der Menschen mit biologischen Argumenten zu erklären. Sir Francois Galton, ein Vetter Darwins, betonte, dass alle Begabung vererbt sei und die Umwelt dabei zu vernachlässigen ist. Selbst Schopenhauer (1788-1860) fragte, ob „….nicht alle Schurken (zu) kastrieren (seien) …“. Und Nietzsche (1844-1900) trieb die Ansichten zur Verbesserung des Menschen durch Züchtung auf den Höhepunkt. Der ganze Euthanasie-Gedanke stammt also nicht von den Nazis (das ist keine Reinwaschung!), sondern sie nutzten das schon vorhandene Feld für ihre perfiden unmenschlichen Machenschaften aus. In Pommern wurden von 1800 bis 1900 kleine Einrichtungen zur Betreuung psychisch Kranker gegründet (Ueckermünde, Greifswald, Stralsund, Lauenburg, Treptow a.d.Rega). 1912 wurde dann die „4. Pommersche Provinzialheilanstalt“ in Stralsund, das heutige Krankenhaus West, eröffnet. Der praktische Beginn der Nazi-Tätigkeit basierte auf dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933. Damals wurde dann auch der Begriff der „arischen Abstammung“ definiert. Das Städtische Krankenhaus Stralsund (die heutige „Poliklinik“) war der Ort der Zwangssterilisierung. Von 1933-1939 erfolgten hier 652 OPs. Dem Gauleiter der NSDAP für die Provinz Pommern unterstanden die Einrichtungen Stralsund. Treptow, Ueckermünde, Lauenburg und Meseritz-Obrawalde. Es mussten Kasernen für Himmlers SS geschaffen werden, und so wurden die Patienten im Herbst 1939 in andere Anstalten verlegt oder direkt der Erschießung im Wald von Piasznicz bei Neustadt (dem heutigen Weijherowo) zugeführt. Fakt ist, dass von den ca. 1200 Patienten der Stralsunder Heilanstalt nur sehr wenige die Zeit des Faschismus überlebten. Konkrete Lehren aus diesem übelsten Fach der Geschichte: Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention lautet: „ (1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, …“. Und im GG heißt es in Art. 1: „ (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Art. 2: „…(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit …“. So möge es auch immer bleiben und überall sein. Auch in diesem Jahr lud das Helios Hanseklinikum Stralsund, wie immer am 27. Januar, zur öffentlichen Gedenkveranstaltung am Mahnmal für die mehr als 1.000 Opfer der Landesheilanstalt ein. Die von dieser Thematik äußerst berührten Anwesenden dankten Dr. Walraph für diesen sehr traurigen, aber doch interessanten Bericht. Wolfgang Mengel, Seniorenakademie

Wolfgang Mengel, Stralsund, 15.02.2023

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