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Verhandelt und hört auf zu schießen!

Als wir 1945 - just in den Tagen, in denen in Potsdam die Staatsoberhäupter der drei Siegermächte tagten und ihr Abkommen beschlossen - aus unserer ostbrandenburgischen Heimat vertrieben wurden und mit dem Rest unserer Habe auf klapprigen Handwagen über die Seelower Höhen zogen, rochen wir verbranntes Menschenfleisch. Der Geruch kam aus den Panzerwracks, die dort in großer Zahl auf dem Schlachtfeld herumlagen. Ob er von sowjetrussischen Tankisten oder deutschen Panzersoldaten kam, war für uns nicht auszumachen. Wir hatten andere Sorgen. Diese jungen Männer müssen in ihren „Eisenkärren« (Brecht) einen furchtbaren Tod gestorben sein. 1986 hatte ich als Gastdozent der Pädagogischen Hochschule Belgorod, gemeinsam mit polnischen Kollegen, nahe der ukrainischen Grenze und unweit von Charkow/Charkiw das Schlachtfeld der bis dahin größten Panzerschlacht der Weltgeschichte und das danach errichtete Militärmuseum besucht und mich bemüht, mir ein Bild von dieser Katastrophe zu machen. Es gelang mir nicht, konnte mir nicht gelingen. Man erlebt und überlebt ein solches Ereignis oder liest später darüber in Geschichtsbüchern nach. Für seine - nach Stalingrad! - verzweifelte Angriffsoperation „Zitadelle« hatten Hitler und seine Generäle 2.700 (!) Panzer aufgeboten. Am 12. Juli 1943 waren dann im Kursker Bogen, nahe der Ortschaft Prochorowka, in der bis dahin größten Panzerschlacht der Weltgeschichte, 600 deutsche "Tiger" und "Panther" auf 800 russische T-34 gestoßen. Trotz ihrer geringeren Feuerkraft und großer Verluste behaupteten sich die T-34 auf dem Schlachtfeld. Seitdem ist dort der Boden blutgetränkt und sehr eisenhaltig. Jetzt setzt die ukrainische Regierung auf nordamerikanische, englische, französiche und deutsche Panzer wie auf unzerstörbare Wunderwaffen. Und eine größere Zahl kriegsunerfahrener und (relativ) sicher lebender Diplomaten und ihre Anhänger meinen, damit einen Schlüssel in der Hand zu haben, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine mit Waffengewalt im Interesse Kiews entschärfen bzw. lösen zu können. Dazu, so meint man, müsste man zur Verteidigung der Ukraine fürs Erste 300 Panzer haben. Inzwischen sind weitere Forderungen nach modernen westlichen Waffen laut geworden: nach Raketen, Flugzeugen, Kriegsschiffen und weiterem mörderischen Kriegsgerät. Ob es in dieser Auseinandersetzung irgendwann einen Sieger oder zwei Erschöpfte gibt oder die Kämpfe dort ergebnislos eingestellt, „eingefroren«, werden, ist ungewiss. Gewiss ist gegenwärtig: Es werden weiterhin natürliche und menschliche Lebensgrundlagen zerstört. Und am Ende werden unberechenbar viele Menschen eines unnatürlichen Todes gestorben und Massen verelendet sein. Außerdem ist nicht sicher, ob sich diese Auseinandersetzung nicht zu einem dritten Weltkrieg ausweitet. Dies zu verhindern gibt es auf der Grundlage von Kompromissbereitschaft beider Seiten nur Verhandlungslösungen. Die werden keiner der beiden Seiten zur vollen Genugtuung gereichen, aber die Menschheit vor weiteren Opfern und Schäden bewahren.

Dr. phil. habil. Erwin Neumann, Güstrow, 13.02.2023

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