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Neulich in der Bratwurstrepublik

Auf der Halbinsel, die deren Bewohner als unabhängigen Kontinent einstufen, ging es in einem Landstrich gemütlich wurschtig zu. Man verwaltete sich selbst. Die Dinge klappten. Das fand ein jähes Ende, wegen der Parlamentswahlen. Die Bürger wählten nicht so wie politisch gefordert. Nun gab es anstatt drei Parteien sechs im Parlament. Dabei waren zwei Parteien mit schrumpfender Wählergunst, eine stabilisierte Partei und eine, die gerade so in das Parlament gewählt wurde. Zwei weitere Parteien wurden von den anderen als Extremisten beschimpft. Gerade diese wurden mit Wählergunst belohnt. Eine dieser Parteien konnte die meisten Wählerstimmen auf sich vereinen und wurde Wahlsieger. Normalerweise stellt diese Partei den Präsidenten und die Regierung der Bratwurst-Republik. Alle Parteien sandten Abgeordnete in das Parlament. Damit waren die lokalen politischen Kräfte nicht einverstanden. Deshalb erklärte sich jeder kurzerhand zum Wahlsieger und behauptete alle anderen seien abgewählt und als Parlamentsmitglieder unfähig. Man hätte sich neu politisch einrichten und gemütlich zum Wohle der kleinen Republik weiter machen können, aber die Parteien begaben sich auf Erkenntnis-Abwege. Dabei fand man Alleinstellungsmerkmale. Die wurden lauthals mit abenteuerlichen Begründungen propagiert: Wir sind die, denen der Wähler vertrauen kann. Wir arbeiten nicht mit den Linken zusammen. Wir arbeiten nicht mit Rechten zusammen. Wir arbeiten nicht mit Linken und Rechten zusammen. Wir tun was für die Wirtschaft, zum Wohle der Bürger. Wir wollen mehr Freiheit für die Wirtschaft und mehr Selbstverantwortung für die Bürger. Wir wollen weniger Staat. Wir tun was für die Umwelt. Wir tun was Soziales. Das stimmt alles nicht, nur wir tun was gegen die Unzufriedenheit und machen alles besser. Diese Bekundungen ergaben ein undurchdringliches Ankündigungs-Wirrwarr dem niemand traut. Das machte sogar Parteien und Parlamentsfraktionen handlungsunfähig. Der gerade erteilte Wählerauftrag zur Bildung einer Regierung und deren Kontrolle war nicht wichtig. Die Bürger hatten ihre demokratische Macht schließlich an das Parlament abgegeben. Der so im Wasserglas des kleinen Parlaments entfachte Sturm brachte trennenden Seegang. Einen Präsidenten für die Bratwurst-Republik konnte das Parlament nicht bestimmen. Eine Regierungsbildung wurde von den Parteien erfolgreich verhindert. Vormals war es besser, den Präsidenten zu bestimmen war einfach, man guckte sich im Hinterzimmer jemand aus. Zum Beispiel: Die nächste Person, die durch die Tür rein kommt, wird Präsident. Diese Person wurde dem Parlament zur Wahl gegeben. Die dortigen unabhängigen nur ihrem Gewissen verantwortlichen entscheidungsfreien Parlamentarier nickten die Person dann zum Präsidenten ab. Ein gewählter Präsident hatte seine Arbeit außerhalb des Parlaments aufzunehmen und eine Regierung zu bilden. Damit war man das ungemütliche Problem los. Aber jetzt behinderten sich die Parteien schon monatelang gegenseitig. Die unabhängigen Parlamentarier trauten sich deshalb keine Entscheidung zu. Die Bratwurst-Republik funktionierte unterdessen mit Hilfe ihrer wackeren Bürger auch ohne Regierung. Widerwillig strengte man im Parlament doch Versuche zur Wahl eines Präsidenten an. Wohl wissend, dass der dann seine Arbeit nicht machen kann, weil er von den Parteien erfolgreich behindert wird. Diese Behinderungsabsicht erwies sich als einziger parteienübergreifender Konsens. Die Absicht griff auch auf die Denkweise der unabhängigen Parlamentarier über. Man hatte den Wählerwillen der Bürger inzwischen vergessen. Außerdem gab es bei der Wahl neue Schwierigkeiten. Es standen zwei Kandidaten zur Auswahl. Das überforderte etliche Parlamentarier bei ihrer Entscheidungsfindung. So veranstaltete man Wahlen, bei denen alle Parlamentarier wussten, dass niemand gewählt wird. „Bananen-Republik, ick hör dir trapsen.“ Anschließend wurde es noch komplizierter, bei der nächsten Wahl sollte es drei Kandidaten geben. Jemand aus der unbedeutenden Partei, die mit Zufall und wenig Sitzen neu in das Parlament gelangt war, kandidierte als Außenseiter. Immerhin gab es nun eine echte Wahl zwischen drei Kandidaten. Sowas ist die Zierde einer Demokratie. Das wurde im Parlament unwillig zur Kenntnis genommen. Natürlich wusste jede Parlamentsfraktion wer für welchen Kandidaten stimmen würde. Eine der als Extremisten verrufenen Parteien hielt nun die Zeit für einen Scherz gekommen. Dieser sollte ihr besten Nutzen bringen und den anderen schaden. Der Scherz bestand darin, den eigenen Kandidaten geschlossen nicht zu wählen, sondern den Außenseiter der unbedeutenden Partei. Dessen Wahl wäre dann ein Sieg für die streitenden bürgerlichen Parteien und könnte diese vereinen. Das Kalkül zum Scherz ging auf und der Außenseiter wurde zum Präsidenten gewählt. Das war nun aber auch wieder falsch. Im Sturm der Entrüstung über die erfolgreiche Wahl vermutete man in den Parteien, dass die als extremistisch verschriene Partei alles organisiert hatte. Man musste deren Handlungsfähigkeit und Macht anerkennen. Der Abstimmungsscherz zeigte den erhofften Nutzen. Diese als extremistisch gebrandmarkte Partei stand als demokratischer Macher gut da. Sie war jetzt politischer Sieger. Der verdutzte Außenseiter-Kandidat nahm die Wahl an und wurde Präsident. Im und außerhalb des Parlaments wurden Sekunden später Rufe der Unzufriedenheit laut. Der überraschende Wahlerfolg des Mannes sei falsch und undemokratisch. Deshalb müsse der Mann wieder absetzt werden, oder zumindest verhindert werden, dass er regiert. Diesen Rufen schlossen sich auch Parlamentarier an, die den neuen Präsidenten gerade selbst gewählt hatten. Wegen der bei den Bürgern aufkommenden verstandsmäßigen und rechtlichen Bedenken sei gesagt, die unabhängigen nur ihrem Gewissen verantwortlichen Parlamentarier sind in der Bratwurst-Republik immun und können für ihr Tun nicht rechtlich belangt werden. Schon gar nicht für irre Forderungen und den öffentlichen Aufruf zum rechtswidrigen Handeln. Dieses Privileg haben sonst nur Entmündigte oder Schuldunfähige. Juristen ordneten den neuen Präsidenten als einziges amtierendes Regierungsmitglied ein. Dieses muss aus staatsrechtlichen Gründen im Amt bleiben. Die Rage der lokalen Parteien schaukelte sich weiter hoch. Abseits der demokratischen Rechtsregeln dieser Republik drängte man den, wie ein begossener Pudel dastehenden, Außenseiter-Präsidenten zum Rücktritt. Dann mischten sich auch noch Leute aus Nachbarländern ein. Sie wollen einen neuen Präsidenten bestimmen und die Machtverhältnisse in dem Landstrich passend ordnen. Bei Erfolg wäre dieser äußere Eingriff komplett rechtswidrig, weil er ein schwerer Verstoß gegen ein alles überragendes Grundgesetz ist, einmal abgesehen vom allseits bekannten Völkerrecht. Ein so gearteter politischer Segen liegt nicht direkt im Interesse von den Bürgern der kleinen Republik. Man fragt sich, was die Parlamentarier da zum Wohle der Republik tun. Denn als Bürger will man eigentlich unbehelligt leben. Beunruhigt kommen Fragen auf: Ist es für die eigene Sicherheit nicht besser, wenn man in die angeblich extremistische Macherpartei eintritt? Oder soll man das Land verlassen? Halbwegs neutrale Beobachter dieser lokalen Szenerie erkennen demokratische Eskapaden. Man vermutet, die verschrobenen Demokratiepraktiken in der abgelegenen Bratwurst-Republik können nicht der alleinige Grund dafür sein. Also, warum das alles? Den Grund findet man in alten Zeiten. Das Gebiet der Bratwurst-Republik gehörte früher zu anderen Staaten. Dort regierten zeitweise Massenmörder. Als die niedergekämpft waren, verboten die Sieger, das Gedankengut der Massenmörder zu erwähnen. Das sollte ein Umdenken in dem von den Massenmördern beherrschten Volk bringen. Der Ansatz war fruchtbar. Das kollektive Vergessen war die Folge. Folgerichtig setzte man sich in dem Volk nicht genügend mit dem Tun der Massenmörder auseinander. Es gab zu wenig nachhaltige Vergangenheitsbewältigung. Das wird nun auf eine unbeholfene Art nachgeholt. Deshalb wird die erwähnte Macherpartei politisch als extremistisch verschrien und ihr die Nähe zu den Massenmördern der Geschichtsschreibung unterstellt. Ganz hintergrundlos ist das nicht, weil diese Partei teilweise den Eindruck macht, sie wiederhole unterschwellig das mühsam vergessene Weltbild. Etliche Bürger fühlen sich davon angesprochen und positiv an alte Werte erinnert. Das brachte der Partei Wählerstimmen. Nach demokratischen Regeln darf so eine Partei Abgeordnete im Parlament haben. Die dürfen dort an Abstimmungen teilnehmen. Aber deren Zustimmung will man nicht. Deshalb kommen alle anderen Parteien in ein demokratisches Dilemma. Das hat die beschriebenen irrwitzig anmutenden Reaktionen zur Folge. Es zeigt sich hier, im Land des Vergessens konnte man keinen Weg zur angemessenen Auseinandersetzung und endgültigen Abgrenzung zu der Massenmörder-Vergangenheit finden. Vermutlich geht man außerhalb der hier beschriebenen fiktiven Bratwurst-Republik besser mit der Vergangenheit um.

Wolfram Stratmann, Warim, 13.02.2020

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