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Wohl und geborgen – in Ost und West

Es wurde die NS-Vergangenheit westdeutscher Politiker und sonstiger größerer und weniger größerer „Fische“ angesprochen – und es waren beileibe nicht nur einige. Filbinger oder Globke sind nur zwei davon. Wir erinnern uns vielleicht auch noch an die letzten unbequemen Berichte zur Personalentwicklung im Auswärtigen Amt. Das BMI hatte und hat vielleicht noch ähnliche Probleme. Und andere auch. Eine Hypothek der NS-Zeit. Es gibt lange Listen von Namen, die nach geltendem Recht eigentlich nie hätten solche Positionen einnehmen dürfen. Unter dem Begriff „Entnazifizierung“ subsummiert sich dann alles, was dazu führte, dass das deutsche Volk inklusive der in Nürnberg nicht Verurteilten, nun offiziell keine Nazis mehr waren. Was in Köpfen steckte, konnte niemand wissen außer die betreffenden Personen selbst. Vergessen wir nicht, dass das NS-Regime nicht nur von einer Clique getragen worden ist. Die Mehrheit des Volkes machte direkt oder indirekt mit. Ohne dieses wäre das Ausmaß des NS-Systems undenkbar. Der NS-Geist ist durch eine „Entnazifizierung“ nicht ausgemerzt worden, blieb nur Wunschtraum oder Feigenblatt. Der Schluss, dass der NS-Ungeist in vielen Köpfen (noch immer) auch von daher rührt, ist nicht von der Hand zu weisen. Er war nie weg, nur unter der Oberfläche. Inmitten der Bevölkerung, nicht nur am rechten Rand, wie man lange gerne glauben (machen) wollte. Langsam kommt die Erkenntnis, dass es ein allgemeines und höchst aktuelles Problem ist, das lange unterschätzt worden ist. Doch war das in der DDR anders? Waren die DDR-Bürger nicht in derselben Lage? Die „Entnazifizierung“ der Bevölkerung fand auch im Osten statt, teilweise rigider als im Westen. Und auch hier wurde diese Aktion irgendwann für abgeschlossen erklärt. Ab da war auch das Volk im Osten „entnazifiziert“. Nicht von ungefähr verstand sich die DDR als antifaschistisch, während in den frühen Jahren tatsächlich von einer faschistisch geprägten BRD ausgegangen worden ist. Man wähnte sich nun auf der Siegerseite, hielt sich für die Guten. Nicht zufällig nannte man die Mauer „Antifaschistischer Schutzwall“. Es ließ sich damit gut mit dem Finger auf den Westen zeigen und sagen, dass man das bessere Deutschland sei, bis auch dieser Begriff aus dem Wortschatz eliminiert wurde. Tatsächlich aber war es in der DDR nicht anders. Auch hier waren bis in die höchsten Kreise ehemalige NSDAP-Mitglieder in führenden Stellungen. Der erste DDR-Innenminister Karl Steinhoff und der erste Staatssekretär des BMI Hans Ritter von Lex hatten beide dasselbe Problem. Sie griffen beide auf Fachpersonal mit NS-Hintergrund zurück. Im DDR-Innenministerium waren 20% des Personals Nazis. In der BRD waren es im BMI in den 50er und 60er Jahren sogar zwischen 66 und 50%. Es ist bekannt, dass die KVP bzw. NVA teils von Generälen gegründet und geführt worden ist, die in der Wehrmacht bereits Goldtressen getragen hatten. Und es ist heute auch kein Geheimnis mehr, dass mit Hilfe der Stasi selbst KZ-Aufseher von Auschwitz in der DDR ihr Auskommen hatten, wenn diese stillhielten oder für die Stasi gespitzelt hatten. Der KZ-Wachmann Josef Settnik, 1964 von der Stasi-Kreisdienststelle Dippoldiswalde zum Bespitzeln seiner katholischen Gemeinde geworben, war nur einer von vielen, just in einer Zeit, als der Auschwitz-Prozess im Westen lief. Ein anderer war SS-Rottenführer in Auschwitz und auch in der Wachkompanie des KZ Monowitz, wo mehr als 25.000 Zwangsarbeiter umkamen. Nach dem Krieg machte er in der DDR als Hochschullehrer Karriere und war hoch angesehen. Der NDPD-Abgeordnete Siegfried Dallmann der DDR-Volkskammer (1950-1990, ab 1967 Fraktionsvorsitzender, zuvor 1950-1952 Finanzminister des Landes Brandenburg) war 1934-1945 aktives Mitglied der NSDAP und 1939 zeitweilig sogar Gaustudentenführer von Thüringen. Und das sind nur einige Beispiele. 1951 ergab eine Zählung der SED, dass 174.928 ehemalige NSDAP-Leute oder Wehrmachtsoffiziere nun Parteimitglied waren. Insgesamt soll es 1,5 Millionen ehemalige NSDAP-Mitglieder in der DDR gegeben haben. Eines war Ernst Melsheimer, Chefankläger der Generalstaatsanwaltschaft bei den frühen NS-Prozessen. Fazit: Bei allem, was zur NS-Last der alten Bundesrepublik zu sagen ist, darf nicht beiseitegelassen werden, dass die DDR das gleiche Problem hatte. Auch in der DDR wären die Skandale groß gewesen, wenn es eine freie Medienlandschaft gegeben hätte. Aber in der DDR wurde bis auf Ausnahmen, öffentlich geschwiegen, um den Nimbus des antifaschistischen Systems zu wahren. Die selten vorgekommenen öffentliche Entlarvungen von Nazis diente der Propaganda und ebenfalls dem Mythos, dass die DDR NS-Belastete im Gegensatz zu anderen konsequent verfolgt. Die Forschung zu diesem Thema in Ost und West hat schon viel zu Tage befördert und wird es weiterhin tun. Je mehr man weiß und versteht, desto schwerer wird es für Mythen sein, sich zu halten. Auch und besonders in unseren Tagen.

Haiko Hoffmann, Schwerin, 14.01.2020

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