Wahnsinn?

Letztens ist die Absetzung des Balletts „Der Nussknacker“ vom Spielplan des Berliner Staatsballetts wegen des Vorkommens rassistischer Elemente als übertrieben bezeichnet worden, gar als Wahnsinn. Was als übertrieben oder Wahnsinn dargestellt wird, hat indes reale Gründe. Denn dieses Ballett wurde von den beiden russischen Choreografen in einer neuen bzw. alten historisierenden Version umgestaltet, welche der ursprünglichen Fassung von 1892 entspricht und Stereotypen enthält, die im zweiten Akt des Balletts z. B. in Gestalt eines arabischen (natürlich mit mit Haremsdamen) und eines chinesischen Tanzes vorgeführt werden sowie weiterer ethnische Stereotypen in Marius Petipas Original-Choreografie. Der Exotismus spielte eine große Rolle in den Ballett-Klassikern des 19. Jahrhunderts. Auf diese Darstellung des Fremden, die von kolonialen Sichtweisen geprägt sind, blickt man heute mit anderen Augen. International ist es heute längst normal, darauf zu achten, dass rassistische Darstellungen (z. B. Black-, Yellow- oder Whitefacing) in Aufführungen nicht vorkommen. Und es hat nicht zufällig für Irritationen gesorgt, da es an diesem Theater bereits diverse Rassismus-Vorfälle mit massiven Einschüchterungsversuchen wiederholt gegeben hat, zuletzt u.a. im Zusammenhang mit der Kündigung der schwarzen Tänzerin Chloé Lopes Gomes. Man sollte also, wenn man verlangt, die Kirche im Dorfe zu lassen, erst einmal hinter die Kulissen schauen und überlegen, ob es nicht gute Gründe gibt, sein Denken einmal neu zu justieren statt in sturem Konservatismus zu verharren, selbst bei heute sehr fragwürdigen Inhalten. So würde ich den Struwwelpeter heute nicht einfach so noch als empfehlenswert erachten wegen der Gewalt gegen Kinder und rassistischer Klischees darin, was früher mal normal war, heute aber nicht mehr. … Übrigens: Rassismus ist auch bei uns ein ernstes Problem. Die subtilen oder offenen alltäglichen und gesellschaftlichen Rassismus-Erfahrungswerte z. B. schwarzer Menschen auch in unserem Lande müssen ernst genommen werden. Selbst meine 15-jährige Tochter musste schon reichlich solche Erfahrungen machen, und das schon als Kind. Wer diese zahllosen Erfahrungen schwarzer Menschen leugnet, verharmlost, relativiert oder ihnen abspricht, argumentiert rassistisch. Rassismus bedarf nicht böser Absicht. Weiße Menschen sollten einmal über den Rand ihrer Komfortzone hinausblicken und die Perspektive derer, die „anders“ sind (also doch nicht dazugehören), zu verstehen versuchen, mindestens aber anzuerkennen. Sie haben immerhin das Privileg, sich wieder in diese Komfortzone zurückzuziehen. Andere haben dieses Privileg nicht. … Das wäre der Beginn eigenen Antirassismus. Es reicht nicht aus zu sagen, dass man gegen Rassismus ist. Man muss auch dagegen etwas tun. Das fängt bei jedem selbst an, ohne ein „Ja, aber …“. … Mach einen Punkt!