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Offene Ohren, geschlossene Türen – Kinder- und Jugendarbeit im Pandemiemodus

Kinder und Jugendliche sind weit mehr als Schüler und Schülerinnen. Sie sind Schutzbefohlene. Junge Menschen befinden sich je nach Altersgruppe in besonders sensiblen Phasen ihrer Entwicklung und es liegt in der Verantwortung unserer Gesellschaft, dies zu berücksichtigen. Im Kontrast zu dieser These steht die anhaltende Schließung von sozialpädagogischen Einrichtungen und Angeboten der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Dass diesem widersprüchlichen Umstand im Zuge der sowohl politisch als auch öffentlich geführten Debatte um Maßnahmen zum Umgang mit der Corona-Pandemie kaum Bedeutung beigemessen wird, ist aus Sicht des Arbeitskreises Offene Kinder- und Jugendarbeit (AK OKJA) der  Hanse- und Universitätsstadt Rostock zwar nicht überraschend, jedoch deshalb nicht weniger erschreckend. Kinder und Jugendliche allein auf ihre Rolle als Schüler und Schülerinnen zu reduzieren, wird ihnen nicht einmal im Ansatz gerecht und zeigt ein verzerrtes Verständnis der Lebensphase Jugend. Zu den Kernaufgaben der jugendlichen Entwicklung gehört neben der schulischen Ausbildung so unter anderem die Erprobung von Abgrenzung aus dem Elternhaus, die Aneignung eigener Räume sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und jugendkulturellen Einflüssen. Unter anderem bieten Jugendclubs und Anlaufstellen mit offenen, niedrigschwelligen Angeboten jungen Menschen den Raum und die Möglichkeit, dies im geschützten Rahmen und bei Bedarf auch unter sozialpädagogischer Begleitung auszuleben. Im AK OKJA sind  derzeit 16 solcher Einrichtungen über alle Rostocker Stadtteile hinweg bereits seit den 90er Jahren institutionell vereint und profitieren von fachlichem Austausch, der stetigen Entwicklung hoher qualitativer Standards  pädagogischer Arbeit und trägerübergreifender Kooperation. Seit Mitte März 2020 sind nun auch Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendhilfe überwiegend geschlossen. In Phasen, in denen eine Öffnung unter Auflagen möglich wurde, konnten durch großes Engagement der Beteiligten zuverlässige Hygienekonzepte entwickelt und umgesetzt werden. Konstanz und Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Beziehungsarbeit sind die essentiellen Elemente sozialer Arbeit, die durch die anhaltenden Schließungen schwerlich zu gewährleisten sind. Auch wenn die Einrichtungen des AK OKJA von Beginn der Pandemielage an kreative Lösungen wie wiederkehrende und interaktive Online-Angebote, Möglichkeiten zur Feriengestaltung und weitere digitale Inhalte anbieten konnten, so torpediert die fehlende Kontaktmöglichkeit der jungen Menschen zu den SozialpädagogInnen in den Einrichtungen die soziale Arbeit in ihrem Kern. Doch während die inhaltliche Arbeit trotz aller Widrigkeiten auf die Situation angepasst werden konnte, führte die Krisensituation gleichwohl Rahmenbedingungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit zu Tage, die auch unabhängig von der Pandemie die praktische Arbeit in bemerkenswerter Weise erschweren. Sowohl Stellen als auch die Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit selbst sind in der Regel als öffentliche Aufgabe  zuwendungsfinanziert. Die notwendige Rechtfertigung über die ordnungsgemäße Verwendung der öffentlichen Gelder nimmt dabei jedoch sowohl hinsichtlich des Verwaltungsaufwandes als auch mit Blick auf die Art und Weise der Wertschätzung sozialer Arbeit Ausmaße an, die aus Sicht des AK OKJA spätestens in den vorherrschenden Krisenzeiten überwunden werden müssen. Keinesfalls sollten pädagogische Ressourcen nicht dadurch gebunden werden, sich mit einer strukturellen Misstrauenskultur auseinanderzusetzen. Über lange Zeit noch wird die Kinder- und Jugendarbeit die Folgen der Lockdown-Maßnahmen und Kontaktbeschränkungen für junge Menschen aufarbeiten müssen, so dass sich aus Sicht des AK OKJA jede Diskussion über Kürzungen finanzieller Mittel und pauschale Zweifel an der qualitativen Ausgestaltung der praktischen Arbeit moralisch verbieten. Dies gilt ebenso für das häufig geäußerte Bedürfnis nach der ergebnisbezogenen Messbarkeit sozialpädagogischer Angebote. Der Faktor Quantität sagt grundsätzlich nichts über den Erfolg sozialer Arbeit aus. Wenn es gelingt, nur wenige oder gar einen einzigen jungen Menschen positiv zu begleiten, so sollte sich jede Wertediskussion erübrigen. Eine produktive, vertrauens- und respektvolle Partnerschaft sowie eine mit Blick auf die Pandemiesituation lösungs- und kompetenzorientierte Zusammenarbeit zwischen den kommunalen Vertretern, öffentlichen Trägern und sozialpädagogischer Basisarbeit ist an dieser Stelle der Wunsch des AK OKJA und weit mehr wert als plakative Wertschätzungsbekundungen. Der AK OKJA weist auf dieser Basis auf die enorme Bedeutung einer zeitnahen Öffnung der offenen Kinder- und Jugendarbeit unter Berücksichtigung aller derzeit gültigen Auflagen und Einschränkungen hin, um jungen Menschen außerschulisch und außerhalb der Familie Perspektiven und Anlaufmöglichkeiten zu bieten. Die Vernachlässigung junger Menschen seit Beginn der Corona-Pandemie lässt sich dadurch nicht umkehren. Doch zum Selbstverständnis sozialer Arbeit gehört die Bereitschaft, die aktuelle Situation gemeinsam mit den jungen Menschen als Herausforderung anzusehen, deren Bewältigung unter Zuhilfenahme aller vorhandenen Ressourcen möglich ist. Wenn sich unsere Gesellschaft weiterhin erlaubt, auf die offene Kinder- und Jugendarbeit als Ressource zu verzichten und die Bedeutung solcher Angebote in Misstrauen und Argwohn zu hüllen, so wird am Ende die Herausforderung und der einhergehende Handlungsbedarf nur noch größer. Probleme werden öffentlich festgestellt und bedauert. Die Jugendclubs der Hanse- und Universitätsstadt Rostock bearbeiten diese Themen an der Basis mit offenen Ohren und bald auch offenen Türen! Der AK OKJA hat einen eigenen Instagram-Kanal: okja_rostock  

Philipp Ohloff, AK OKJA der Hanse- und Universitätsstadt Rostock, 21.04.2021

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