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Es ist einmal

Eines Tages klopfte ein Fremder an die Stadttore, bat um Einlass und gehört zu werden. Der Fremde war auf der Suche nach einer Stadt, wo er seine Visionen umsetzen kann. So berichtete er vom Bau eines neuen, ganz modernen Stadtviertels für 750 Menschen, in dem sogar 900 Arbeitsplätze geschaffen werden. Er sprach von einer neuen Gestaltung des Stadthafens mit einem nahezu achtstöckigem Haus für ein Museum, daneben ein kleineres Haus für Händler und Gaukler - rundherum und mittendrin Bäume und Bänke. Ferner sah seine Vision einen Stadtpark und einen künstlichen Strand am Fluss vor. Damit es recht bequem sei, von der Stadt zum Stadtpark über den Fluss zu kommen, soll eine goldene Brücke gebaut werden. 1,7 Mio. Menschen werden kommen und 25 Mio. Taler flössen ins Stadtsäckel. Die Stadtvertreter waren begeistert. Aber was wird das alles kosten, war dennoch deren bange Frage. Der Fremde winkte ab und meinte 100 Mio. Taler würde er besorgen und die kleine Summe von 40 Mio. Talern sollten doch für diesen Glanz im Stadtsäckel sein. Werden seine Visionen auch das Gefallen der Bürger finden? Der Fremde beruhigte die Stadtvertreter und schlug vor, man muss sie ja nicht fragen und ihnen ja auch nicht alles sagen. Geblendet vom Zahlenwerk - der Pakt war geschlossen. Es verging mehr als ein Jahr, da kam über Stadt und Land eine Pandemie, die ihre Spuren auch im Stadtsäckel hinterließ, denn die Einnahme des Zehnten verringert sich gewaltig. Ungeachtet dessen kam auch der Fremde wieder in die Stadt und wollte wissen, ob man denn da auch recht fleißig sei und seine Visionen umsetzt. Mit emsiger Geschäftigkeit sandte man Boten zu Sterndeutern in die Ferne, um diese um Rat zu fragen. Man inszenierte eine Bürgerbeteiligung, denn so ganz ohne, dass wollte man dann doch nicht wagen. Getreu dem Pakt fragte man die Bürger nicht, ob sie dieses oder jenes überhaupt wollen. Nein, man lud sie ein, Details zu benennen, wie, ob die Markthalle auch eine Toilette und einen Wickeltisch haben sollte, lies Alternativen nicht zu, gaukelte ihnen vor, das der Pakt besiegelt sei und vermied tunlichst die Folgekosten von 15 Mio. Talern zuzüglich der Unterhaltkosten für Gebäude, Anlagen und die goldene Brücke zu nennen. Der Tag, wo der Pakt besiegelt wird, kommt. Dieses Märchen hat kein gutes Ende, denn man vernachlässigt, dass weniger als 2.000 Bürger sich beteiligten und ignoriert geflissentlich alle schriftlichen Zweifel. Weder ein kühner Recke wird kommen, um die Stadt vor neuer Verschuldung zu retten noch eine gute Fee, die die Entscheider von der Verblendung des Zahlenwerkes erlöst. Ein trauriges Kapitel in der Stadtgeschichte nimmt ihren Lauf in eine unsichere Zukunft. H. Hilde /Rostock

Anonym., Rostock (Name dem Verlag bekannt), 02.10.2020

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