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Man verdrängte

Hiermit bedanke ich mich über den Leserbrief von Herrn Hans Lüdtke aus Ludwigslust zum Thema »letzte Generation der Zeitzeugen« (Blitz 8.11.2022). Sein Vater hat menschlich gehandelt in einer totalitären Zeit, indem er sich weigerte Russen zu erschießen. Ich bin Jahrgang 1963 und habe von einigen meiner Familienmitglieder erst in ihrem hohen Alter Berichte gehört - z.B. über ihre Flucht vor den »Russen« (der aus Einwohnern vieler Sowjetrepubliken bestehenden Roten Armee) in den letzten Kriegstagen nördlich von Berlin. Deutsche Frauen, Kinder und alte Männer auf der Flucht waren tagelang gemeinsam mit gestreifter Häftlingskleidung tragenden KZ- Häftlingen auf den Straßen und nachts in Scheunen. Die Häftlinge wurden auf »Todesmärschen« Richtung Westen getrieben. Die ausgezehrten Häftlinge wurden bewacht und wenn sie nicht mehr laufen konnten am Wegrand erschossen und verscharrt. Das sahen die Flüchtenden. Meine Großtanten und Großcousinen und meine Mutter und ihre Geschwister, die kleine Kinder waren, haben das jahrzehntelang nicht erzählt. Man schämte sich wohl für die NS- Begeisterung, man begriff, daß es nach 1945 opportuner war den Mund zu halten. Man verdrängte. Einer meiner Großvater war ein gläubiger Nazi und Reiter-SS-Mann und leitete als Arzt ein Lazarett an der Ostfront. Er hat darüber nach seiner Rückkehr aus amerik. Gefangenschaft nicht gesprochen mit seinen Kindern. Er weinte wenn sie nachfragten. Das (Ver-) Schweigen war groß. Es führte dann dazu, daß ich - als Enkelin - mich fast obsessiv mit NS-Geschichte, dem Holocaust und jüdischer Kultur in Deutschland beschäftigte. Ich habe in Israel studiert und gearbeitet, spreche und schreibe Hebräisch fließend und arbeite bis heute beruflich als Judaistin. Über einen anderen Großvater lernte ich erst als er schon alt war, daß er in der Reiter-SA war und den Massenmörder Heinrich Himmler auf seinem Gutshof in der Börde empfing. Zur Trappenjagd. Der jüdische Viehhändler der regelmäßig auf seinen Hof kam und die Besitzer des Geschäftes in Magdeburg wo die Großmutter regelmäßig einkaufte - die waren eines Tages nicht mehr da.

Silke Schaeper, Zarrentin, 19.12.2022

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